Im Jahr 1968, also vor genau 50 Jahren, fanden wichtige Ereignisse statt, zum Beispiel entstand durch die damalige Studentenrevolte die sogenannte 68er-Bewegung und veränderte gründlich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Attentate auf Martin Luther King und Robert Kennedy in den USA erschütterten die Welt. In der württembergischen Posaunenarbeit ging es friedlich zu, aber auch hier gab es eine wichtige Veränderung: Der langjährige, hochgeschätzte und verdienstvolle Landesposaunenwart Hermann Mühleisen ging in den Ruhestand - nach fast 40 Dienstjahren (1929 - 68). Er hatte die schwäbische Posaunenarbeit und Generationen von Posaunenbläsern geprägt und wurde von ihnen hoch verehrt, sodass sein Abschied von der Posaunenarbeit ein wichtiger Einschnitt war. Seine Nachfolger Wilhelm Mergenthaler (1969 - 84), Erhard Frieß (1985 - 99) und Hans-Ulrich Nonnenmann (seit 2000) führten und führen sein Werk in großer Verantwortung weiter – mit neuen Akzenten –, aber Mühleisen wird für immer in Erinnerung bleiben, da er gewissermaßen der „Vater“ der Posaunenarbeit in Württemberg ist.
Es gab zwar schon vor ihm Posaunenchöre in Württemberg und auch schon Landesposaunentage in kleinerem Rahmen. Es gab jedoch noch keinen hauptamtlichen Landesposaunenwart, sondern Realoberlehrer Jakob Luz aus Stuttgart dirigierte die Bläser ehrenamtlich. Erst 1929 entschloss sich der Württembergische Ev. Jungmännerbund, seine Posaunenarbeit durch einen hauptamtlich angestellten Posaunenwart zu fördern. Der 26-jährige Karlshöher Diakon Hermann Mühleisen wurde dazu berufen, und das war ein Glücksfall. Mühleisen baute mit viel Sachverstand, mit großem Elan und mit Hingabe eine vorbildliche Posaunenarbeit innerhalb des württembergischen Jungmännerwerkes auf. Seine humorvolle Art half ihm dabei, die Herzen der Bläser zu gewinnen. Bald konnte er größere Landesposaunentage durchführen, 1933 in Reutlingen, 1935 in Ludwigsburg, 1937 in Tübingen und 1939 in Esslingen, zwei Monate vor Kriegsbeginn.
Posaunenwart im Dritten Reich und Zweiten Weltkrieg
Hermann Mühleisen hatte in diesen 39 Jahren als württembergischer Landesposaunenwart viele Höhen und Tiefen erlebt, und manchmal hätte er allen Grund gehabt zu verzweifeln. Schon wenige Jahre nach seinem Amtsantritt begann in Deutschland eine folgenschwere politische Entwicklung, die den Posaunenchören schwer zu schaffen machte, ja sie in ihrer Existenz bedrohte. Bekanntlich kamen 1933 die Nationalsozialisten an die Regierung, was zur Folge hatte, dass sie sich auch immer mehr in das kirchliche Leben einmischten. Die Posaunenchöre wurden aus dem Jungmännerwerk ausgegliedert und in die nationalsozialistische Reichsmusikkammer zwangseingegliedert. Außerdem wurde ihr öffentliches Auftreten durch alle möglichen Schikanen und Verbote immer mehr erschwert.
Der junge Landesposaunenwart und seine Bläser kamen in große Bedrängnis, weil man ja damals nicht wissen konnte, dass das gottlose Dritte Reich nur zwölf Jahre dauerte. Die Herrscher des NS-Staates wollten ja ein tausendjähriges Reich aufrichten, in dem natürlich die Kirchen und christliche Organisationen keinen Platz mehr gehabt hätten. Die Posaunenchöre mussten damit rechnen, dass sie früher oder später verboten und aufgelöst würden. Es war damals nicht einfach, auf Gott seine Zuversicht zu setzen und seiner Güte zu vertrauen und darauf, dass irgendwann die Herrschaft der größenwahnsinnigen Nazi-Bonzen ein Ende haben würde. Dass Mühleisen nicht nur ein musikalischer sondern auch ein gläubiger Mann war, half ihm in dieser Zeit besonders.
Aber das Schlimmste stand den Posaunenchören, wie auch der übrigen Bevölkerung, noch bevor: der Zweite Weltkrieg. Unter den vielen Millionen jungen Männern, die auf den Schlachtfeldern Europas geopfert wurden, befanden sich auch 1000 gefallene Posaunenbläser aus Württemberg. Manche Chöre waren regelrecht „ausgeblutet“. Die zuvor blühende schwäbische Posaunenarbeit war um Jahrzehnte zurückgeworfen. Hermann Mühleisen, der wegen seiner Gehbehinderung nicht zur Wehrmacht eingezogen wurde, versuchte die Übriggebliebenen zusammenzuhalten und die Chöre neu aufzubauen. Leichter gesagt als getan, da es an allem fehlte. Zum Beispiel am Papier für neue Noten. Damit die Sonderdrucke für die Landesposaunentage 1946 und 1948 hergestellt werden konnte, mussten die Chöre Altpapier sammeln, das der Landesposaunenwart mit seinem kleinen Auto persönlich abholte. Der Landesposaunentag 1946 war das Lebenszeichen, dass die Posaunenchöre in Württemberg noch existierten.
Gründer der Ulmer Landesposaunentage
Schon während des Krieges war der Wunsch laut geworden, den ersten Landesposaunentag in Friedenszeiten im Ulmer Münster abzuhalten, der größten evangelischen Kirche in Württemberg und ganz Deutschland. Die bange Frage war, ob das riesige Gotteshaus den brutalen Bombenkrieg überstehen würde. Denn die Ulmer Innenstadt war bei mehreren Luftangriffen, dem schwersten am 17. Dezember 1944, fast völlig vernichtet worden. Es wurde oft als Wunder bezeichnet, dass inmitten der Trümmerwüste das Münster, nur leicht beschädigt, stehen geblieben war. So konnte Hermann Mühleisen die am Leben gebliebenen Bläser und die Jungen, die erst gerade blasen lernten, zum ersten Landesposaunentag der Nachkriegszeit für den 1. und 2. Juni 1946 nach Ulm einladen. „Jesus Christus herrscht als König“, hieß die Losung, um den Gegensatz zu dem vergangenen, gescheiterten Führerkult der Nazis zu verdeutlichen.
Die äußeren primitiven Umstände der Anreise nach Ulm sind oft geschildert worden. Aber es muss ein unvergessliches Erlebnis gewesen sein, als erstmals 2000 Bläser im Münster und auf dem Münsterplatz - umgeben von lauter Ruinen - musiziert haben. Für Mühleisen und seine Landesposaunenbläser war klar: Das Münster ist die neue Heimat der schwäbischen Posaunenchöre. Nur hier können die Posaunentage in Zukunft stattfinden, und sie finden seitdem alle zwei Jahre in Ulm statt. Die Landesposaunentage in Ulm - das ist eine große Erfolgsgeschichte. Die Faszination, die von der einzigartigen Kulisse des Münsters ausgeht und von den Klängen der großen Chöre, hatte 50 Jahre lang, bis in die 1990-er Jahre hinein, stetig steigende Teilnehmerzahlen zur Folge. Hermann Mühleisen galt allgemein als „Vater der Ulmer Posaunentage“. Auf dem Münsterplatz in Ulm bildete sich jahrzehntelang alle zwei Jahre der größte Posaunenchor der Welt. Erst 2008 hat der neugegründete Deutsche Evangelische Posaunentag diesen inoffiziellen Titel übernommen.
Mühleisen leistete auch Pionierarbeit für die Posaunenchöre, indem er musikalisch neue Wege beschritt. Er war der Meinung, dass die Posaunenchöre nicht nur „wortgebundene Musik“ spielten sollten. Schon in den 1930-er Jahren öffnete er das Repertoire für Intraden und andere freie Bläserstücke, zunächst vor allem von Johann Pezelius und Gottfried Reiche, allmählich auch für andere. Wenn er doch hören könnte, was heute so alles gespielt wird! Auch löste sich Mühleisen vom Klangideal, wie es vor allem der Urvater der Posaunenchöre, Johannes Kuhlo, vertrat, dass nämlich ein Posaunenchor möglichst ähnlich klingen sollte wie ein Gesangschor. Deshalb hatte Kuhlo die Trompeten aus den Chören verbannt und verwandte nur Hörner der verschiedensten Art. Mühleisen jedoch öffnete die Chöre für Trompeten und Posaunen, wobei er die verschiedenen Hörner auch schätzte.
Ein Pionier der Posaunenarbeit
Mühleisen machte sich auch einen Namen als Herausgeber von Notenbüchern für die Bläser.Da damals die „Bundesklänge“ und die „Kuhlo“-Bücher I bis III schon sehr in die Jahre gekommen waren, plante er gleich nach der Währungsreform von 1948 etwas Neues, die „Posaunenklänge“. Es wurde ein großer Wurf. Über 60 Jahre lang begleitete dieses Notenbuch Generationen von Bläser, bis es 2015 von dem großen Werk „Bläserklänge“ abgelöst wurde. Ergänzend dazu gab Mühleisen das kleinere Buch „Singet – klinget“ heraus und zu den Landesposaunentagen einen „Ulmer Sonderdruck“. Als 1953 ein neues Gesangbuch für die ganze EKD erschien, einigten sich Posaunenwerk und CVJM/Jungmännerwerk, erstmals ein Posaunen-Choralbuch parallel zum Gesangbuch herauszugeben. (Für den württembergischen Teil war Mühleisen allein verantwortlich.) Dieses war bis 1996 in Gebrauch, als das nächste Gesangbuch und das nächste Choralbuch erschienen.
In einer anderen Hinsicht war Mühleisen auch ein Pionier. Er gründete 1947 einen Auswahlchor, den „Schwäbischen Posaunendienst“, kein Profi-Ensemble, aber eine Gruppe von ausgesuchten Spitzenbläsern aus den Posaunenchören. Sie spielten jahrelang an jedem Feiertag Choräle im damaligen Süddeutschen Rundfunk. Ein besonderes Highlight der ersten Jahre war die Teilnahme an der 100-Jahr-Feier des CVJM/YMCA-Weltbundes 1955 in Paris. Höhepunkte sind auch die Konzerte in Ulm am Vorabend jedes Landesposaunentages seit 1948. Das Ensemble mit einem Dutzend Blechbläser, das trotz seiner 70 Jahre immer jung bleibt, wird vom jeweiligen Landesposaunenwart geleitet, die ersten 20 Jahre also von Hermann Mühleisen.
Darüber hinaus übten er und die Chorleiter seiner Zeit eine wichtige pädagogische Funktion aus: sie vermittelten überall im Land musikalische Grundkenntnisse an junge Männer (Mädchen waren damals in den Posaunenchören noch nicht erwünscht). Und die Jugendlichen erlebten in den Posaunenchören das positive Gefühl, mit anderen gemeinsam zu musizieren und etwas zu erleben. Manche (so auch der Verfasser dieser Zeilen) fanden über die Posaunenchormusik den Zugang zu den großen Werken der Kirchenmusik und der klassischen Musik überhaupt. In den Nachkriegsjahren gab es einen ungeahnten Aufschwung des kirchlichen Lebens in allen Bereichen, auch des Jungmännerwerks und seiner Posaunenarbeit. Wer hätte 1945 zu hoffen gewagt, dass Gott noch solche Wunder tut? Es waren Gründerjahre für viele Posaunenchöre. Damals erhielt Mühleisen für seine großen Verdienste von Landesbischof Martin Haug den Titel „Kirchenmusikdirektor“.
Ziemliche Sorgen machte er sich um die damalige organisatorische Zersplitterung der Posaunenarbeit in Deutschland. Nach dem Ende der Reichsmusikkammer 1945 waren außer in Württemberg nur im Bereich des CVJM-Westbundes die Posaunenchöre - aber leider nicht alle - zum CVJM-Reichsverband (Jungmännerwerk) zurückgekehrt. In vielen Landeskirchen bildeten sich selbständige Posaunenwerke oder Verbände. Manche schlossen sich zum „Posaunenwerk der EKD“ zusammen. Zwischen dem CVJM-Reichsverband und dem Posaunenwerk gab es oft Misstöne, da ihre Posaunenchöre in manchen Gebieten in Konkurrenz zueinander standen. Nur bei den alle zwei Jahre stattfindenden Kirchentagen wurde zusammengearbeitet. Beim Stuttgarter Kirchentag 1952 hatte Hermann Mühleisen die Leitung der Bläser. (Da der 49-Jährige bei einer Veranstaltung eine Herzschwäche erlitt, musste Wilhelm Mergenthaler vorübergehend einspringen.) Im Osten, also in der DDR, bildeten sich gezwungenermaßen nach dem Mauerbau 1961 selbstständige Posaunenwerke. Erst Jahre nach der Wiedervereinigung, 1994, kurz vor Mühleisens Tod, gelang es, unter entscheidender Mitarbeit des württembergischen Landesposaunenwartes Erhard Frieß, alle Posaunenwerke und Verbände in Ost und West unter einen Hut zu bringen. In Bethel, der Wirkungsstätte von Johannes Kuhlo, wurde der Dachverband für alle Bläser „Evangelischer Posaunendienst in Deutschland (EPiD)“ gegründet. Vermutlich hat der damals 91-jährige Hermann Mühleisen dieses wichtige Ereignis noch mitverfolgt und sich darüber gefreut.
Abschied auf dem Münsterplatz
Zurück zum Jahr 1968: Am 10. November konnte Mühleisen seinen 65. Geburtstag feiern, deshalb wollte er zum 31. Dezember in den Ruhestand treten. Eine große Verabschiedung fand jedoch schon beim 22. Landesposaunentag am 5. Mai in Ulm statt, auf dem großen weiten Rund des Münsterplatzes inmitten von 7.500 Bläsern. So viele waren noch nie zu einem schwäbischen Landesposaunenfest zusammengekommen, und es hatten nicht mehr alle im Münster Platz, erstmals wurde die Donauhalle als „Filiale“ miteinbezogen. Strahlender Sonnenschein tauchte den Münsterplatz bei der Schlussfeier in festliches Licht, als Hermann Mühleisen zum letzten Mal auf das hohe Podium inmitten der riesigen Bläserschar stieg. Als der scheidende Landesposaunenwart seinen Taktstock hob, blitzten die Instrumente in der Sonne, und brausende Wogen wunderbarer Klänge brandeten am Münsterturm empor. Zuerst erklangen einige markante Intraden, danach sieben Bachchoräle. Der große J. S. Bach hätte sicher seine Freude daran gehabt, wie gewaltig und doch voller Gefühl seine Choräle von den 7.500 Blechbläsern gemeinsam musiziert wurden.
Vom hohen Rednerpult vor dem Münster-Hauptportal würdigten Landesbischof Erich Eichele und der bei den Bläsern besonders beliebte Altlandesbischof Martin Haug sowie der Leiter des Jungmännerwerks, Rolf Scheffbuch, die Verdienste Mühleisens. Bischof Haug gab in einer humorvollen Ansprache den Bläsern eine „mühl-eiserne“ Ration mit auf den Weg, wichtige Regeln für das Blasen und für den Glauben. Der Verfasser dieser Zeilen schrieb damals als Berichterstatter für das „Ev. Gemeindeblatt für Württemberg“: „Als dann der Fanfarenjubel des ‚Nun danket alle Gott‘ und das unvergleichliche ‚Gloria sei dir gesungen‘ verklungen waren, wurden die Bläser und die versammelte schwäbische Posaunen-Gemeinde Zeugen einer symbolischen Geste: der neue Landesposaunenwart Wilhelm Mergenthaler stieg zu seinem Vorgänger auf das Dirigentenpodest hinauf und übernahm von Hermann Mühleisen den großen Taktstock, mit dem dieser die schwäbischen Posaunenbläser jahrzehntelang so meisterhaft geleitet hat.“
Hermann Mühleisen hatte ab 1969 noch lange Jahre des Ruhestandes vor sich, den er mit seiner Frau Anna am angestammten Wohnort auf der Karlshöhe in Ludwigsburg verbrachte. Er verfolgte aufmerksam die weitere Entwicklung der Posaunenarbeit in Württemberg und darüber hinaus. Für seinen Nachfolger Wilhelm Mergenthaler brachte schon das folgende Jahr mit dem Stuttgarter Kirchentag 1969 ein besonderes Großereignis. Am 17. Februar 1995 starb Hermann Mühleisen 91-jährig, von den Beschwernissen des Alters gezeichnet. Rolf Scheffbuch, der Freund aus ejw-Zeiten, inzwischen Prälat in der Posaunentags-Stadt Ulm, hielt ihm die Trauerrede. Auf dem Ludwigsburger Friedhof erinnert eine kleine, unscheinbare Grabplatte an den bedeutenden Mann, über dessen Leben die unvergänglichen Worte stehen könnten: „Soli Deo Gloria“.
Reinhart Hohner
Autor des Buches „Ulm – ein Vorplatz des Himmels“
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